Hallo Frischlinge,

mein kleines Geschenk an Euch ist die nachstehende schöne Weihnachtsgeschichte von Verena Erl. Die netten Bilder dazu hat Renana Heine gezeichnet. Verena erzählt von den Abenteuern eines Rotkehlchens, das zu einer besonderen Weihnachtsfeier eingeladen ist.

Weihnachtsfeier auf Umwegen

Rudi, ein kleines Rotkehlchen-Männchen, sitzt am Heiligabend in seinem gemütlichen Halbhöhlen-Häuschen im Wald und freut sich sehr, als er die Einladung zur Weihnachtsfeier aller Rotkehlchen in den Händen hält: 24. Dezember, 19 Uhr an der großen Tanne mit der silbernen Spitze, bitte erscheint pünktlich!

Schon seit Wochen fiebert Rudi diesem Tag entgegen. Weihnachten zusammen mit den anderen Rotkehlchen zu feiern ist der Höhepunkt des Jahres. Es wird gemeinsam gesungen, getanzt, gelacht… Als Rudi von vergangenen Feiern vor sich hinträumt, vergisst er alles um sich herum, auch die Zeit.

Auf einmal schreckt er hoch: „Oh nein, bin ich vergesslich! In einer halben Stunde fängt die Feier an und ich habe mich noch nicht mal geputzt!“ Rudi spreizt die Federn und versucht so viel Glanz wie möglich ins orange-rote Kehlgefieder zu bekommen. Er beeilt sich sehr, aber merkt, wie schnell die Zeit vergeht. „Ich muss jetzt los, sonst bin ich der Letzte!“, sagt er zu sich selbst. Er spannt seine Flügel, setzt zum Start an und fliegt in die dunkle Nacht.

Nach ein paar Minuten bemerkt Rudi ein weiteres Missgeschick: Die Einladung mit der Wegbeschreibung hat er ganz vergessen. „Oh nein, wo war jetzt noch einmal diese große Tanne?“, fragt er sich. 

Plötzlich hört Rudi ein lautes Schmatzen, Grunzen und Quieken.  landet auf dem Dach einer Rehfütterung und sieht eine Rotte Wildschweine, die sich die vom Jäger ausgelegten Weihnachtsleckereien schmecken lassen. Rudi überlegt kurz, traut sich dann aber doch die wilden Schweine anzusprechen. „Entschuldigung!“, piepst er. Aber vor lauter Gegrunzte hören die Sauen den kleinen Vogel gar nicht. „Entschuldigt bitte!“, schreit Rudi so laut er kann. Die Wildschweine unterbrechen ihre Fress-Party und versuchen die Stimme zuzuordnen.

Da entdecken sie auf dem Dach das zierliche Rotkehlchen. „Was ist los kleiner Mann, wie können wir dir helfen?“, fragt Wanda, die hübscheste Wildsau, die Rudi je gesehen hat. „Ich will zur Weihnachtsfeier der Rotkehlchen bei der silberfarbenen Tanne. Leider habe ich die Wegbeschreibung vergessen und jetzt weiß ich nicht, wohin ich fliegen muss. Habt ihr die anderen Rotkehlchen gesehen?“, fragt Rudi schüchtern. „Tut mir leid Kleiner“, erwidert Wanda, „wir wissen nicht genau wo sie feiern. Aber Richtung Norden findest du viele große Tannen.“ Als Wanda Rudis enttäuschten Blick sieht, gräbt sie kurz ihre Schnauze (Jägersprache: „Gebrech“) in den Boden, um dann eine dicke Eichel hervorzuzaubern. „Hier Kleiner, sei nicht traurig, du findest sie schon. Ich möchte dir diese Eichel schenken, vielleicht muntert dich das etwas auf.“

„Danke, sehr nett von dir!“, zwitschert Rudi. Er nimmt die Eichel in den Schnabel und macht sich auf in Richtung Norden – voller Hoffnung, die anderen Rotkehlchen bald zu finden

Rudi fliegt Slalom durch die Bäume und sieht auf einmal etwas Helles am Boden. Er ist neugierig und will einen genaueren Blick riskieren. Es ist ein alter, hohler Baumstamm, festlich erleuchtet. Rudi hört piepsiges Lachen und viele kleine Trippelschritte. „Hallo?“, wispert Rudi, und schon ragt ein kleiner Kopf aus einem Stammloch. Es ist Susi, die freche Spitzmaus. Rudi und Susi kennen sich. Die Maus ist etwas erstaunt, ihren gefiederten Kumpel um diese Zeit zu sehen.

„Ja Rudi, was machst du denn hier? Wir feiern gerade Weihnachten, möchtest du dich uns anschließen?“, fragt Susi. „Oh, vielen Dank, aber ich bin gerade auf dem Weg zur Weihnachtsfeier der Rotkehlchen“, erwidert Rudi. „Leider bin ich spät dran und weiß den Weg nicht mehr!“ Ein bisschen Verzweiflung schwingt in seiner Stimme mit.

„Oh je, das ist ja blöd, wie kann ich dir helfen?“, erkundigt sich das Spitzmaus-Mädchen. „Weißt du, ob das der richtige Weg zur silberfarbenen Tanne ist?“, fragt Rudi das Mäuschen. „Ich denke schon, du musst nur noch ein bisschen mehr nach links, in diese Richtung“, antwortet Susi und weist mit ihren kleinen Vorderpfoten nach Westen. „Vielen Dank Susi, das mache ich.“ Rudi hört sich schon etwas zuversichtlicher an.

„Warte Rudi, ich will dir etwas mitgeben“, sagt die Maus und verschwindet kurz im Baumstamm. „Hier!“, sie überreicht Rudi ein getrocknetes Gänseblümchen. „Ich habe ganz viele im Sommer gesammelt, getrocknet und damit unseren Stamm dekoriert“, erzählt sie stolz. „Ich hoffe es gefällt dir!“ Rudi ist gerührt: „Das ist sehr lieb von dir. Mach‘s gut!“ Er klemmt die Eichel und das Blümchen in seinen Schnabel, winkt mit einem Flügel seiner Freundin zu und fliegt weiter.

Nach einer Weile findet er die Tannen und ist zunächst erleichtert. Doch es ist sehr dunkel, alle Bäume sehen gleich aus. Rudi wird nervös, denn er kann den richtigen Baum einfach nicht finden. Langsam verzweifelt er und Tränen füllen seine Augen.

Da hört er ein lautes Knurren und Keckern. Rudi bekommt Angst, diese Laute bedeuten nichts Gutes für einen kleinen Vogel wie ihn. Am Boden entdeckt er ein Fuchs-Familie vor ihrem Bau. „Oh nein, ausgerechnet Füchse!“, denkt sich Rudi. Als er ein Küken war, wurden ihm von seinen Eltern viele Schauergeschichten über die unberechenbaren Allesfresser mit den messerscharfen Zähnen erzählt. Man darf ihnen nicht zu nahekommen, sonst ist man in großer Gefahr. Aber Rudi braucht Hilfe und es ist doch Weihnachten! 

Man muss wissen, an Heiligabend gibt es einen Pakt zwischen den Tieren des Waldes: Kein Tier darf ein anderes jagen oder fressen! Das gilt nur an diesem einen speziellen Abend!

Die Füchse sitzen um einen dicken Baumstubben. Die Fuchsmutter (die „Fähe“) erzählt ihrem Nachwuchs Geschichten vom Christkind und muss die kleinen Rabauken immer wieder knurrend ermahnen, ruhig zu sitzen und zuzuhören. Trotzdem ängstigt sich Rudi vor den spitzen Zähnen und den listigen Augen. Er pustet noch einmal durch und lässt sich einfach auf dem Stubben nieder. Die Füchse erschrecken sogar ein wenig, aber halten still. „Entschuldigt liebe Füchse“, beginnt Rudi mit zittriger Stimme. „Ich suche die Weihnachtsfeier der Rotkehlchen. Sie müsste hier irgendwo sein, aber ich kann sie nicht finden!“.

Fritz, der alte Fuchsrüde, kneift die Augen zusammen und zischelt zwischen den Zähnen: „Hmm, die anderen Rotkehlchen suchst du?“ Rudi nickt etwas verängstigt. „Ja, die haben wir gesehen, die sind dort drüben, ein paar Meter noch“, murmelt Fritz und zwinkert dem Rotkehlchen zu. Rudi atmet hörbar auf und wirkt sehr erleichtert. Das ist den Füchsen nicht entgangen und sie fangen an zu lachen. „Wir tun dir nichts kleiner Vogel“, beruhigt ihn der alte Rüde. Er greift hinter sich und zaubert den schillerndsten Kiesel hervor, den Rudi je gesehen hat. „Hier, mein gefiederter Freund, frohe Weihnachten!“, flüstert Fritz und streckt Rudi den kleinen Stein entgegen. „Vielen Dank und frohe Weihnachten!“, stottert Rudi überwältigt von der Großzügigkeit der Füchse. Er greift seine Geschenke und macht sich schnell auf, um endlich mit allen anderen Rotkehlchen den Heiligen Abend feiern zu können.

Rudi ist tatsächlich nur wenige Meter geflogen, bis er ein farbenfrohes Gezwitscher und Flügelschlagen hört. Er ist überglücklich, als er die große Tanne mit der silbernen Spitze entdeckt. Der Baum ist bunt geschmückt und der Duft von Sonnenblumenkernen und Rosinen liegt in der Luft. Als die anderen Rotkehlchen Rudi erblicken, stürmen sie auf ihn zu: „Rudi, Rudi, schön, dass du da bist. Wo warst du so lange? Wir haben uns Sorgen gemacht!“ Die Stimmen prasseln nur so auf Rudi ein. „Es tut mir leid, dass ich so spät bin“, sagt Rudi und blickt beschämt zu Boden. „Ach, das macht doch nichts, Hauptsache du bist da!“, entgegnet Robin, sein bester Freund.

Da entdecken die anderen Rotkehlchen Rudis Mitbringsel und staunen über die schönen Geschenke. Rudi erzählt ihnen von seiner abenteuerlichen Anreise und dem Zusammentreffen mit den Wildschweinen, Mäusen und Füchsen. Begeistert erzählt er, wie hilfsbereit die anderen Tiere waren.

„Es gibt doch nichts Schöneres als gute Freunde, egal ob groß oder klein, gefiedert oder mit Pelz!“, strahlt Rita, Rudis Cousine. Die übrigen Rotkehlchen nicken zustimmend, umarmen eines nach dem anderen Rudi mit ihren Flügeln und beginnen gemeinsam ihr liebstes Weihnachtslied zu zwitschern.